„Zusammengeflickt und gestoppelt wie eine Narrenjakke“
– die Nachtwachen des Bonaventura und Cornelia Renz’ Bildwelten

 

Aus dem Katalog ‚Night. Tail. Pieces.‘, The Green Box, 2011, anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Konstanz

 

Heinz Stahlhut

 

Ein romantischer Roman als Vorlage für zeitgenössische Kunst? Das erscheint auf den ersten Blick eher absurd, denn unsere gegenwärtige Kultur hat nun wahrlich nichts Romantisches an sich. Straff durchorganisierte Arbeitsabläufe, die sich durch die modernen Kommunikationsmedien immer mehr auch in die Freizeit ausdehnen, die Kommerzialisierung weiter Lebensbereiche und nicht zuletzt die weitgehende Entfernung von der Natur lassen keinen Raum für Werte, die für die Romantik zentral waren wie das Poetische, die Natürlichkeit und eine der unmittelbaren Nützlichkeit entgegen gesetzte Ethik.

Doch schon ein etwas tiefer gehender Blick zeigt, dass Cornelia Renz’ Werke weitaus mehr mit der von den Nachtwachen verkörperten, spezifischen Ausformung der Romantik gemein haben, als man zuerst denken mag.

In sechzehn Episoden bieten die Rundengänge des Nachtwächters Bonaventura Kreuzgang durch ein schlafendes Kleinstädtchen ein Panorama aus allen Ingredienzien des Schauerromans: Exaltiertheit und Verzweiflung, Schlaflosigkeit und Fieberträume, mutige Soldaten und verschlagene Priester, Schatzgräber und Teufel, Totenwachen und verschwörerische Treffen im Schutz der Nacht.

Mit einer den Nihilismus streifenden Klarsicht geißelt Kreuzgang die Eigenarten seiner Zeitgenossen und schont dabei keinen. Weder die profitgierigen und selbstzufriedenen Bürger noch der idealistisch-weltfremde, einzig seiner brotlosen Kunst lebende Poet können vor seinem scharfen Urteil bestehen. Jedem hält er den Spiegel vor oder zwingt ihn gar mit kleinen Streichen sokratischer Schläue zur Selbsterkenntnis.

Dafür bediente sich der Autor der unterschiedlichsten literarischen Mittel und Motive. Elemente des Märchens kommen ebenso vor wie die der Gothic Novel; die Beschreibung von Kunstwerken gibt nicht weniger Anlass zur Reflexion als die Kritik zeitgenössischer Autoren. In einer zeitweilig ans Fiebrige und Delirierende grenzenden Manier verbindet der Text unmittelbar Entlegenes miteinander und erweist sich so als virtuos gestückelter Flickenteppich, ganz im Sinne der Weltsicht des Bonaventura: „In einem schwankenden Zeitalter scheut man alles Absolute und Selbständige; deshalb mögen wir denn auch weder den ächten Spaß, noch ächten Ernst, weder ächte Tugend noch ächte Bosheit mehr leiden. Der Zeitkarakter ist zusammengeflickt und gestoppelt wie eine Narrenjakke, und was das Aergste dabei ist – der Narr, der darin stekt, mögte ernsthaft erscheinen.“[1]

Dieses Fehlen einer identifizierbaren Handschrift mag dazu beigetragen haben, dass man das 1805 anonym erschienene Werk verschiedensten renommierten Autoren wie Clemens Brentano, Caroline Schelling, E. T. A. Hoffmann und einigen anderen zugeordnet hatte und es erst durch die Auffindung einer beiläufigen Notiz von Ernst August Friedrich Klingemann diesem zugeschrieben werden konnte.

Dieses Fehlen einer Handschrift ist denn auch eines der Merkmale, die Klingemanns Nachtwachen und Cornelia Renz’ großformatige Werke gemein haben. Nur schon das verwendete Material – Faserstift auf Acrylglas und Kömatex – ist von äußerster Künstlichkeit. Obschon seit fast einem Jahrhundert als Kunst-Stoffe eingeführt stellen Acrylglas und verwandte Materialien im Gegensatz zu Leinwand und Papier als Mal- und Zeichengrund immer noch eine Irritation des konventionellen Kunstgeschmacks dar und erhalten dadurch einen ausgeprägten Ready-Made-Charakter, der Künstler und Kunstwerk deutlich voneinander distanziert.

Auch die Ausführung mit Faserstift verdeutlicht, dass die Künstlerin der Vorstellung vom persönlichen Ausdruck der gezeichneten Linie keinen Vorschub zu leisten gedenkt. Der Faserstift ermöglicht einen kontrollierten, präzisen Strich. Daher findet er denn auch vor allem in der technischen Zeichnung Verwendung. Die Oberfläche des Acrylglases, das die Künstlerin als Zeichengrund verwendet, gibt der Hand zwar einen festen Untergrund, setzt dem Strich aber durch seine Glätte keinerlei Widerstand entgegen, so dass er gleichmäßig ausgeführt werden kann. Hiermit erweist sich Renz als durchaus gelehrige Schülerin eines Großmeisters der Moderne, Marcel Duchamp, der schon früh für sich beschlossen hatte: „Ich konnte mich nicht dem wahllosen Zeichnen oder Malen, dem Verspritzen von Farbe überlassen; ich wollte auf eine völlig trockene Zeichnung zurückgehen, eine trockene Kunstauffassung. Und die technische Zeichnung war für mich die beste Form für diese trockene Form von Kunst.“[2]

Demgemäß zeigt Renz’ Strich denn auch keinerlei Unregelmäßigkeiten, die sich als affektive Irritationen der Künstlerin auf ihre durchaus ambivalente Motivwelt lesen ließen. Die Konturen der dargestellten Gegenstände und Figuren sind von einer geradezu klassizistischen Härte, Klarheit und Eleganz; selbst die Schraffuren, die im Hin und Her der Strichlagen durchaus Gelegenheit böten für motorische Ausbrüche als Zeugnis emotionaler Bewegung sind von einer kühlen Regelmäßigkeit, die an die forcierte Systematik der frühneuzeitlichen Zeichnung eines Albrecht Dürer erinnert.

Dies ist umso erstaunlicher, als die von der Künstlerin gewählten Motive – es klang schon an – durchaus zur Erregung Anlass gäben: In einem ob seiner Fülle verwirrenden Geflecht von Bildelementen mischen sich nackte Gestalten mit Darstellungen von Tieren und Gerippen, üppigen floralen und ornamentalen Mustern, geometrischen Konstruktionen und Schriftzügen zu absurden und teilweise erschreckenden Figurationen.

In Wendy beispielsweise reitet vor einer Korona ein üppiges Kind auf einem sich aufbäumenden Pferdeskelett, das seinerseits vom Skelett eines Kindes voltigiert wird. Zu dessen Füßen sind teilweise eröffnete Kinderkörper auf ovalen, weißen Flächen gebettet. Schon die unmittelbare Verbindung von Kindheit, Jugend und Tod – in weiteren Fällen wie bei Subrosa ist es die aus anderen Gründen brisante Kombination von Kinderkörpern und Erotik – wirkt auf viele Betrachter sicher verstörend, wenn nicht gar abstoßend.

Anlass zu Irritation gibt darüber hinaus die Kombination eben dieser Szenen mit dem sachlichen Stil, in welchem sie vorgetragen werden. Francisco José de Goya y Lucientes ließ die skurrilen Szenen seiner ‚Caprichos’ immerhin aus dem Dämmerlicht der Aquatintaplatte aufscheinen, und Max Ernst setzte seine phantastischen Heiligen und Monster ins ebenso irreale, grelle Licht weiter, kahler Landschaften. Eben dass das Phantastische bei Cornelia Renz hingegen so beiläufig nüchtern präsentiert wird, macht sie so verwirrend.

Bei genauer Betrachtung jedoch entdeckt man, dass die Bilder weitgehend aus präexistenten Motiven aus unterschiedslos allen Bereichen visueller Produktion montiert sind. Es finden sich Motive aus der Hochkunst wie die zentrale Gruppe aus Bronzinos rätselhafter Allegorie von 1545 in der Londoner National Gallery ebenso wie Illustrationen aus anatomischen Lehrbüchern oder Werbelogos. Das dramatische Leidenspathos der Figuren aus Niccolo dell’Arcas Pieta in der Bologneser Kirche Santa Maria della Vita von 1462/63 wirkt in Renz’ Zampano umso verstörender, weil es seines ursprünglichen Gegenstandes entbehrt und dadurch grundlos zu sein scheint. Die flatternden Gewandfalten, die im ursprünglichen Zustand den Ausdruck des Leidens ins Extreme steigern, passen sich hier nahtlos in das schönlinige Bauschen von Stoffen und Fallen von Bändern ein, die die Komposition im Hintergrund beherrschen.

Überhaupt kommt der Ornamentik in den Kompositionen von Cornelia Renz die Funktion zu, die oft so gegensätzlichen Motive fließend miteinander zu verbinden. Darin besteht – neben der bewussten Irritation des modernen Geschmacks – die subversive Funktion der ungewohnten Opulenz ihrer Arbeiten.

Diese Funktion kann das Ornament übernehmen, da seine im Rapport eingesetzten Elemente gegenständliche Bedeutung einbüssen. Zur Verdeutlichung lässt sich hier Ernst Gombrichs Interpretation von Andy Warhols Marilyn Monroe von1962 anführen, nach der das einzelne Porträt durch die Reihung von 20 Exemplaren neben- und untereinander auf der Leinwand an Bedeutung verliert und Teil eines Musters wird. Dies führt Gombrich zu dem Schluss, dass ein Gewinn an Ordnung durch einen Verlust an Bedeutung erkauft wird und umgekehrt. Ordnung und Bedeutung erscheinen ihm als die zwei zentralen Elemente des Ornamentes, die in zwei unterschiedliche Richtungen streben.[3]

Diese Mittelstellung zwischen Darstellung und Abstraktion nehmen auch die zahlreichen Logos und Label ein, die Renz immer wieder in ihre Bilder einflicht.

Im Rahmen der Verpackungsgestaltung werden sie vom Betrachter klaglos als grafische Gestaltungselemente von minderer Bedeutungshaltigkeit erkannt. Aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und in neue Zusammenhänge versetzt, gewinnt ein Motiv wie der Pferdekopf in Hengst (Stallion) von 2011 plötzlich eine ganz eigene Bedeutung und bildnerische Potenz.

So besteht die besondere Leistung der Künstlerin darin, in der zeitgenössischen Bilderflut solche (nicht im moralischen oder kunsttheoretischen Sinne) ‚bildwürdigen’ Motive zu entdecken und sie auf so virtuose Weise miteinander zu verquicken, dass sie auf den ersten Blick als stimmige Figurationen erscheinen, die aber dennoch subkutan Unbehagen erzeugen.

Für dieses Ziel greift Renz auf Taktiken sowohl der Surrealisten als auch der Pop-Künstler zurück. Während Erstere einzelne Bildelemente aus ihren bisherigen Zusammenhängen lösten und ihnen in neuen Kontexten andere, teils gegensätzliche Bedeutung zuwachsen ließen, führten die Vertreter der Pop Art die Bildwelt von Massenmedien und Werbung in die Hochkunst ein und lösten so traditionelle Hierarchien auf.

Cornelia Renz verschmilzt in ihrer künstlerischen Produktion somit nicht nur Motive aus unterschiedlichsten Bildwelten, sondern erneuert zugleich künstlerische Strategien zweier bedeutender Strömungen des vergangenen Jahrhunderts.

 

[1]          Bonaventura, Nachtwachen, Penig (Dienemann & Comp.) 1805; zitiert nach: Bonaventura, Nachtwachen, nach Rahel Varnhagens Exemplar mit einem Nachwort herausgegeben von Raimund Steinert, Potsdam (Gustav Kiepenheuer Verlag) 1920, S. 28.

[2]          Marcel Duchamp 1955, zitiert nach: Marcel Duchamp, Interviews und Statements, gesammelt, übersetzt und annotiert von Serge Stauffer, Ostfildern-Ruit (Hatje Cantz) 1992, S. 55f.

[3]          Ernst H. Gombrich, Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens, Stuttgart (Klett-Cotta) 1982, S. 163. Er macht dies daran deutlich, dass Objekte, die zu Elementen eines Wiederholungsmusters gemacht werden, häufig vereinfacht und stilisiert werden und damit an Eindeutigkeit und Individualität einbüssen.

 

 

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