Laudatio anlässlich der Verleihung des Förderpreises Bildende Kunst der Schering Stiftung 2005 an Cornelia Renz

 

Mark Gisbourne

 

What are little boys made of?

 Frogs and snails

 And puppy dog's tails.

That's what little boys are made of

What are little girls made of?

 Sugar and spice

 And all things nice,

That's what little girls are made of.

 

Nursery Rhymes (J. O. Halliwell, 1844)

 

Es ist immer ein schwieriges Unterfangen, das Werk eines Künstlers auf den Nenner bringen zu wollen und etwa zu behaupten, es sei dem Wesen nach so oder so geartet. Nachdem ich schon oft einführende Worte dieser Art gesprochen habe und seit rund zwanzig Jahren Londoner Studenten in zeitgenössischer Kunst unterrichte, sollte ich eigentlich wissen, wie das System funktioniert. Doch in Wahrheit gibt es gar kein System, nach welchem sich das Werk eines Künstlers definitiv erklären ließe, und gäbe es eins, so würde eine Monographie vollauf genügen... und dabei könnten wir es dann bewenden lassen. Noch entscheidender ist aber doch vielleicht folgende Wahrheit: Im gleichen Maße, wie wir vorgeben, das Werk visuell zu lesen, liest es uns... Es sagt uns etwas über die Art unserer „Lektüre" – was wir sehen, worauf wir uns konzentrieren, was wir betonen wollen... und bisweilen, in Augenblicken der Erkenntnis, sagt es uns sogar etwas über uns selbst – wer wir sind, während wir sehen. Wir wissen das deshalb, weil ein bestimmtes Werk jedes Mal, wenn wir es neu betrachten, etwas anders auf uns wirkt. Das ist so ähnlich wie mit dem menschlichen Gedächtnis: Wenn wir uns irgend etwas in Erinnerung rufen, dann geschieht das jedes Mal mit einer leicht veränderten Nuance und einem etwas anderen Inhalt. Denn Menschen sind niemals neutral, sie bleiben nie stehen, egal, wie konservativ unser Geschmack auch sein mag oder wie extravagant wir uns darzustellen versuchen.

 

Was ich damit sagen will: Der Determinismus ist eine gefährliche Sache. Und dasselbe gilt für die Neigung, das Leben und die Arbeitspraxis eines Malers ausschließlich unter einem einseitigen Gesichtspunkt zu betrachten. Gleichwohl kann man nicht ignorieren, dass Cornelia Renz von 1993 bis 1998 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studierte und dass sie von 1998 bis 2001 Meisterschülerin von Sighard Gille war. Doch damit komme ich auch gleich wieder auf die Gefahren des Determinismus zurück, der ja in der internationalen Szene zur Zeit sehr en vogue ist, was die so genannte „Leipziger Schule" betrifft... wobei ich gestehen muss, dass mich in der englischsprachigen Welt der Vorwurf zum Teil auch selbst trifft, schließlich habe ich vor gut zwei Jahren einen langen Artikel über die LIGA geschrieben. Cornelia Renz unterscheidet sich mit ihren Bildern eindeutig von diesen Malern (in ihrer Mehrzahl Männer), die sich vor allem mit Architektur, Raum, Perspektive, Herstellungsprozessen und/oder phänomenologischen Fragen beschäftigen.

 

Und das war – ich bekenne es ohne Vorbehalt – auch genau der Grund, weshalb ich kürzlich in groben Zügen skizzierte, wie ich ihr Werk verstehe; ich hoffe nur, ich habe dabei den gefährlichen Determinismus vermieden, der durch krampfhafte Assoziation erzeugt werden kann. Ihre Arbeit unterscheidet sich eindeutig von derjenigen aller anderen Mitglieder der „Leipziger Schule". Und das ist auch der Grund, weshalb ich den erwähnten Text mit einem alten englischen Kinderreim einleitete, einem fast nonsenshaften Kurzgedicht, das unbeabsichtigt viele Klischees des geschlechtsspezifischen Determinismus bestätigt – all die Stereotypen, die beim Übergang von der Kindheit zum so genannten Erwachsenendasein ungemein Schaden anrichten können. Er geht folgendermaßen:

 

 

Woraus sind kleine Jungs gemacht?

Aus Fröschen und Schnecken

Und Stummelschwänzchen junger Hunde.

Daraus sind kleine Jungs gemacht.

 

Woraus sind kleine Mädchen gemacht?

Aus Zucker und Gewürzen

Und all den netten Dingen,

Daraus sind kleine Mädchen gemacht.

 

Nursery Rhymes (J. O. Halliwell, 1844)

 

 

Genau das ist es, was ein Renz-Bild hinterfragt. Diese Phasen des menschlichen Lebens, die so oft als „Übergangsriten" bezeichnet werden, diese physischen und psychologischen Passagen in unserem Leben, die ja stets viel zu ambivalent sind, als dass ihnen mit einer klaren Definition beizukommen wäre. Wo verlaufen beispielsweise die Grenzen zwischen der vermeintlichen Unmittelbarkeit der Vorpubertät, Pubertät und voll ausgebildeter Geschlechtsreife? Ist das lediglich eine Frage des Alters und einfacher diskursiver Zuweisung? Unter einem anderen Gesichtswinkel betrachtet: Wenn wir tatsächlich geschlechtsreif geworden sind, wann beginnen dann die mittleren Jahre, wann setzt das Alter ein? Tatsache ist doch, dass wir uns permanent in einem Zustand des „Werdens" befinden, wir werden ständig etwas, und wie im Falle des „Mündigwerdens" gibt es nie einen bestimmten Augenblick, an dem sich die Veränderung eindeutig festmachen ließe, sei sie biologisch, physiologisch oder geschlechtsspezifisch. Das heißt, unsere Identität bildet sich in einem und durch einen Prozess heraus, innerhalb des Rahmens, in dem sich unser Leben selbst manifestiert.

 

Eben diese „transformativen" Momente macht die Malerin Cornelia Renz zum Gegenstand ihrer Kunst. Ganz konkret heißt das, dass bei ihr oft das vorpubertäre Mädchen, die klischeehafte „Kindfrau" und das erotisierte Nymphchen im Mittelpunkt stehen. Natürlich spiegelt ihr Werk stets auch eine gewisse Ambiguität wider, bisweilen in Form eines Geschlechtsplagiats: Jungen in Mädchenkleidern, Mädchen in militarisierten Männerrollen und umgekehrt. Natürlich läge es nahe, hierin Analogien zu Nabokovs „Lolita", zu Carrolls „Alice" und zu Sades „Justine" oder „Juliette" zu sehen, doch es würde zu kurz greifen, wollte man diese Arbeiten ausschließlich unter der Rubrik der libidinösen Ökonomie einordnen. Zwar gibt es auch einige Anspielungen auf „Psychedelia" und geschlechtsspezifische Ambivalenzen früherer Zeiten. Doch diese Frauen sind mehr als das – bisweilen sind sie in moralischer Hinsicht Ungeheuer, was umso erstaunlicher ist, als sie der Hand und der Gedankenwelt einer durchaus selbstanalytischen Frau entstammen. Und gerade deshalb fehlt ihnen auch jeder „Voyeurismus", wie man ihn normalerweise bei einer solchen Thematik erwarten könnte.

 

Manchmal denkt man ja an das kalvinistische „monströse Weiberregiment" (John Knox), mit dem männliche und weibliche Autoren in denen letzten vierzig Jahren sehr pointiert gearbeitet haben. Das Umdenken in der männlich-weiblichen Geschlechtsspezifik könnte sich möglicherweise als das Wesentliche herausstellen, was im letzten halben Jahrhundert in unserem westlichen Kulturkreis stattgefunden hat. Denn hier gibt es nun, wie Cornelia Renz in ihren Bildern demonstriert, weder Zucker noch Gewürze, da wird die Jungfrau und Hure nicht zu männlich bedingten Stereotypen erhöht, aber sie vermeidet auch jede simple Dichotomie zwischen Mann und Frau. Ihre jungen Frauen setzen sich ausnahmslos über Grenzen hinweg und damit auch über die Rollen, die ihnen allgemein von der Gesellschaft zugewiesen werden.

 

Andererseits jedoch geht von den Renzschen Bildern und Zeichnungen auch eine graphische Unmittelbarkeit aus; im Stil später „Vivian Girls" (und Referenzen zu Henry Darger drängen sich durchaus auf) entfalten sie ihre Wirkung oft durch Linie und Schraffur. Die großen Gemälde treiben ihren Schabernack mit unseren Vorstellungen von „oben" und „unten", als wollte die Künstlerin, dass wir das Werk gewissermaßen optisch aus der Luft umkreisen. Die Manipulation des Blickwinkels aus der Luft, die sie hier vornimmt, enthält Analogien zu den Konventionen, wie sie in Kinderbildern, in der Psychotic Art und im Art brut gelten. Und meiner Ansicht nach kommt es nicht von ungefähr, dass sich die Künstlerin der primären Impulse des Bildermachens auf sehr subtile Weise bewusst ist, schließlich hat sie neben Kunst auch Psychologie studiert. Bekanntlich malt ein Kind normalerweise so, als habe es eine Aufsicht auf die Szene, die auf dem Blatt Papier vor ihm entsteht, und dies zeigt sich sehr deutlich in den Renzschen Großformaten wie Bambi (2001), bei dem schon allein der Titel etwas Kindheitliches heraufbeschwört. Dasselbe ließe sich auch von Camouflage (2001) sagen, einem anderen ihrer frühen Gemälde. Renz' Farbrealismus folgt auch den Konventionen der Graphik mit ihrer Unmittelbarkeit, gelegentlich erinnert er an einen Comic, wo eine herbe Kolorierung - sei es mit Farbe oder Tusche - die Silhouette und die Umrisse zu sprengen versucht (man könnte sogar sagen „sich an ihnen reibt"). Ich neige zu der Annahme (aber das ist reine Spekulation meinerseits), dass ihr einzigartiges Farbgespür irgendwie mit der Zeit zu tun hat, die sie Mitte der achtziger Jahre in Indien verbrachte. Doch die Wahrheit kennt nur sie selbst... Auf jeden Fall lässt sich in ihren Farben eine gewisse Affinität zu jenen erkennen, die man im Straßengewühl dieses Subkontinents findet.

 

Ihre Thematik hat ursprünglich allerdings wenig Kindliches, sofern sie nicht den Traumata und Träumen kindlicher Störungen entnommen ist. Und außerdem bleibt sie immer auf die Oberfläche beschränkt, was ja bei Kindern nicht durchgängig der Fall ist – man braucht sich nur einmal die Tische in einem Kindergarten anzusehen, um das zu begreifen. Umgekehrt tendiert die Thematik zu den fetischistischen Parametern von Art brut und Psychotic Art, zu jenen chaotischen Sphären der Transgression also, in denen sich Traumprojektion, Begehren und Katharsis notwendigerweise verankern. Doch selbst dann bleiben noch immer gewisse Ambivalenzen bestehen. Denn beim zweiten Hinschauen entdeckt man das paradoxe Gegensatzpaar von süß und gleichzeitig sauer, ein Oxymoron, das merkwürdigerweise nur in der Imagination zu einem Einklang findet.

 

Ein weiterer Aspekt im Werk von Cornelia Renz besteht darin, dass es eindeutig mit Motiven von Maskerade und den Konventionen des Verkleidens zu tun hat – oft bezieht es sich auf das Theater und manchmal hat es sogar etwas Zirkushaftes an sich. Da ist zum Beispiel das „Tutu", das mich persönlich in vieler Hinsicht an meine Herkunft als Engländer und an die Tradition der Weihnachtsaufführungen bei uns erinnert. Wie viele von Ihnen vielleicht wissen, finden englische Männer großes Vergnügen daran, sich als Frauen zu verkleiden – man könnte fast von einer typisch englischen Art des Gaudiums sprechen –, denn bei den alljährlichen Weihnachtsstücken, zumeist Märchen in dramatisierter Form, werden die weiblichen Rollen von Männern gespielt und sämtliche Männerrollen von Frauen. Die Hosenrolle hat im englischen Theater ja eine lange Tradition, die bis zur Zeit Shakespeares zurückgeht, als Männer häufig weibliche Parts interpretierten. Das Element der Maskerade, das allen Kulturen gemeinsam ist, spielt in Zusammenhang mit Identität und Herausbildung von Geschlecht also eine wichtige Rolle. Das Vergnügen der Kinder, sich mit den Kleidern ihrer Eltern zu kostümieren, dürfen wir in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen. Und fraglos hat die Geburt ihrer Tochter Anna 1988 der Künstlerin diesen Aspekt noch näher gebracht.

 

Die Maskerade führt uns natürlich zwangsläufig zum Thema des Karnevalesken, den tief verwurzelten Vorstellungen und Momenten sanktionierter Grenz- und Gesetzesübertretung, die in sämtlichen Kulturen und Gesellschaften nicht nur genehmigt sind, sondern sogar zelebriert werden. In den Worten von Michail Bachtin: „Das ist die Dimension, in der Prügel und Beleidigungen nicht persönliche Strafen sind, sondern symbolische Handlungen, die sich gegen etwas Höheres richten, gegen den König. Es ist das System volkstümlicher Feste, das am deutlichsten im Karneval zum Ausdruck kommt." Jetzt mögen Sie sagen, wir haben ja gar keinen König mehr – wo also liegt die Relevanz? Der Begriff König steht hier für „kodierte Souveränität", verkörpert im Gesetz eines souveränen Staats, das wir alljährlich durch unsere Teilnahme an einem kathartischen Ereignis überschreiten – sei es die „Love Parade", der Karneval in Köln oder der „Christopher Street Day", der überall auf der Welt gefeiert wird. Dieses Element des ausgelassenen Feierns ist es – ob passiv oder aggressiv oder passiv-aggressiv –, das sich so häufig in den Bildern von Cornelia Renz findet.

 

Im selben paradoxen Sinne lassen die Gemälde und Zeichnungen an Kinderreime oder Märchen denken, oder zumindest enthalten sie etwas von den phantastischen und grotesken Relikten, die uns in einem Alter der verlorenen Unschuld noch geblieben sind. Wir alle wissen natürlich, wie viel Gewalttätigkeit in Märchen oder Kinderreimen vorkommt – Deutschland verfügt ja durch die Gebrüder Grimm über ein besonders reiches Erbe – oder auch in anderen wie Hänsel und Gretel, Rotkäppchen oder sogar die Drei kleinen Schweinchen usw. Sie sind uns wie Fragmente des kollektiven Gedächtnisses überliefert worden, und wir tragen sie ein Leben lang in uns. Deshalb könnte man auch die zusammengefügten Elemente, das Fremdmaterial, das den Renzschen Bildern aufgepfropft ist, gewissermaßen als Übertragung eines Zeichens jener fragmentierten Erinnerungen sehen, die wir alle in uns tragen, also die disparaten Beziehungen zwischen Dingen, die in einem merkwürdigen Nebeneinander in unserem täglichen Leben wirksam werden.

 

Wenn es etwas gibt, das wir in unserer heutigen Welt ganz sicherlich gelernt haben, dann Folgendes: Der Flohmarkt kann uns genauso viel Erkenntnisgewinn verschaffen wie eine Enzyklopädie. Man könnte das Internet bisweilen als einen Cyber-Flohmarkt bezeichnen, der auf seinen eigenen Seiten ständig stattfindet: In einem Augenblick sind wir bei Ebay, und im nächsten informieren wir uns vielleicht auf einer Website über den Stoizismus. Was besagt das über den zunehmenden Wandel unseres heutigen Bewusstseins oder – könnten Sie fragen – über das wirre Durcheinander, das in meinem Bewusstsein herrscht, da ich mich doch oft zu dem hingezogen fühlen, was manche als vulgären Kommerz betrachten mögen, andere wiederum als anspruchsvolle intellektuelle Betätigung?

 

Was ich sagen will, ist wohl Folgendes: In der Kunst und in der Arbeitspraxis von Künstlern ist das Bilderbuch für Kinder auf seine Weise inzwischen genauso bedeutsam wie der Almanach „Der Blaue Reiter". Das kunsthistorische Wissen, das Cornelia Renz mitbringt, ist auch eine Widerspiegelung dieses Verständnisses, denn beide Elemente werden durch ihr runderneuertes, kraftvolles Vokabular ausgearbeitet und erläutert. Natürlich möchte ich zum Schluss Cornelia Renz zum Förderpreis der Schering Stiftung beglückwünschen – mit den einfallsreichen Innovationen in ihren Gemälden und Zeichnungen hat sie diese Auszeichnung mehr als verdient. Ihre kleinen Mädchen, ihre Jungen-Mädchen, ihre Mädchen-Jungen sind alles gleichzeitig – grausam und schüchtern, verführerisch und abstoßend, süß und sauer –, aber ich glaube, das gilt für uns alle. Wir leben heute in einer Welt, die genauso wenig ausschließlich aus „Fröschen und Schnecken und Stummelschwänzchen junger Hunde" besteht, wie sie ein Ort ist, wo Mädchen „Zucker und Gewürze und all die netten Dinge" sind. Nach meinem Gefühl will Cornelia Renz zum Ausdruck bringen, dass die Welt gerade deshalb ein besserer Ort ist und dass wir die Freiheit haben sollten, alles zu imaginieren und alles zu sein, unabhängig davon, welchem Geschlecht wir uns persönlich zugehörig fühlen.

 

Vielen Dank.

 

 

© Mark Gisbourne, Berlin, 11. März 2005

 

Übertragung aus dem Englischen: Matthias Wolf, Berlin

 

 

 

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